Marco Bülow begründet seinen angekündigten Parteiaustritt

Ich bin und bleibe Sozialdemokrat

Nach 26 Jahren Mitgliedschaft und 16 Jahren als Bundestagsabgeordneter trete ich aus der SPD aus. Ich tue dies nach reiflicher Überlegung, ohne Häme, aber ernüchtert und auch traurig. Viele Jahre habe ich mich aufgerieben, habe ich gegen die „Entsozialdemokratisierung“, gegen hierarchische, intransparente Strukturen, gegen die Orientierungslosigkeit in der SPD angekämpft. Immer wieder mit der Hoffnung, dass sie sich wandelt, dass sich die Basis gegen die Selbstzerstörung wehrt. Trotz unglaublicher Verluste und Niederlagen bei den Wahlen, trotz aller Lippenbekenntnisse, gab es und gibt es aber immer nur ein „Weiter-so“. Die konstruktiven, antreibenden Kräfte zogen sich entweder zurück, wurden immer weiter geschwächt und isoliert oder haben sich angepasst. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich mich selbst verleugne, meine Glaubwürdigkeit verliere, wenn ich keine Konsequenzen ziehe. Ich bin voller Energie, voller Tatkraft und möchte Politik weiterhin gestalten. Diese Energie möchte ich aber dort einsetzen, wo sie auch Wirkung entfalten kann. Meine wichtigste Feststellung dabei ist: Auch außerhalb der SPD – ich bin und bleibe Sozialdemokrat. Gern wird der Spruch bemüht: Aus der Partei tritt man nicht aus, außer man stirbt. Dieser Satz ist unpolitisch und absurd, denn dann stellt man eine Struktur über die eigenen Ideale. Die SPD ist zwar mehr als nur eine Partei und sie hat so viel geleistet, so vielen Menschen geholfen. Deshalb zerreißt es mich, aber eine Partei darf nicht dauerhaft wichtiger sein als der Antrieb, warum ich mich politisch engagiere. Ich war in der SPD, weil sie sich vor allem für die sozialen Belange der Menschen einsetzt und nicht, weil sie sich mit einem neoliberalen System abfindet, nur noch an Symptomen rumdoktert und sich häufig mächtigen Lobbyinteressen beugt, die nur Wenigen nutzt. Jeder muss sich seine eigenen Grenzen setzen, aber meine sozialdemokratischen Ideale werden immer mehr verraten, mein Gewissen so stark beansprucht, dass ich die Partei nicht mehr über alles stellen darf – auch wenn es bedeutet meine berufliche Position und persönliche Perspektive zu gefährden.

Das Ideal der sozialen Demokratie wiegt mehr als Strukturen und Personen

Ich weiß, meine Art Politik zu machen, hat einigen das Leben schwergemacht. Zuletzt sind Kolleg*innen selten auf meine inhaltlichen Punkte eingegangen. Häufiger haben sie mich lieber persönlich kritisiert. Mir ist bewusst, dass ich auf der anderen Seite auch eine Reihe von Sozialdemokrat*innen enttäuschen werde. Bis zum Ende bin ich gegenüber der sozialdemokratischen Idee und der Basis der Partei immer solidarisch gewesen. Aus meiner Meinung habe ich nie einen Hehl gemacht, mich aber der Kritik auch immer gestellt. Mir war es wichtig, mich konstruktiv in die Debatten einzubringen, vielfach im Bereich Umwelt und Energiepolitik, aber auch zum Beispiel beim Thema Ungleichheit mit der Sozialtour, mit meinem Forderungspapier und der Kampagne zur Sozialwende. Vorschläge zur Erneuerung der Partei habe ich immer wieder eingebracht und die Progressive Soziale Plattform gegründet, um enttäuschte und kritische Sozialdemokrat*innen aufzufangen und engagierte Menschen außerhalb der Partei zu gewinnen. Die Ideale und Werte müssen verteidigt werden, nicht in erster Linie eine Struktur oder die Personen an der Spitze. Ich wünsche der SPD und vor allem den wirklich überzeugten Sozialdemokrat*innen alles Gute und dass die Partei sich doch noch erneuert und mutige sozialdemokratische Politik vertritt. Ich bin immer noch der Meinung, dass die Menschen, dass unser Land und Europa eine starke Sozialdemokratie benötigen. Die Sehnsucht nach einer klaren, sozialen Alternative ist groß, aber die SPD steht leider nicht mehr dafür. Schlimmer noch, sie bindet Kräfte und Energie, die so viel zu wenig bewirken und woanders besser aufgehoben wären.

Persönliche Analyse

1. Grundsätzliches

Mutlose Partei ohne klare Haltung

Eine unabhängige, nicht parteigesteuerte Analyse der verlorenen Bundestagswahl 2017 zeigte viele Fehler und Versäumnisse auf. Ganz kurz wurde in der Partei darüber gesprochen, um dann ohne Konsequenzen sofort wieder zur Tagesordnung zurückzukehren. Dabei wird in dem Papier das Dilemma der SPD in einer Aussage sehr treffend zusammengefasst: Die SPD wollte die „Sowohl-als-auch-Partei“ sein und ist die „Weder-noch-Partei“ geworden. Sie ist beliebig geworden, ohne erkennbare Haltung, klare Linie und schon gar nicht mit einer klaren Alternative zu den anderen Parteien – vor allem zur Union. Die SPD schwankt sehr häufig bei Themen, will es möglichst den verschiedenen Seiten Recht machen, kritisiert mal das Handelsabkommen TTIP, dann verteidigt sie es, blinkt mal kurz Links und fordert 12 Euro Mindestlohn, ohne das aber wirklich mal anzugehen. Viel zu häufig wird schon vor Verhandlungen und Gesprächen mit der Union der Kompromiss vorgedacht, ist die Schere im Kopf, nur das anzubieten, was auch die Konservativen am Ende mittragen könnten. Aufgrund der deutlichen Gegenforderungen der Union muss man dann in den Verhandlungen natürlich zusätzliche Abstriche machen und bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss kommen weitere Aufweichungen hinzu. Am Ende gibt es den Kompromiss vom Kompromiss vom Kompromiss, der keine wirkliche Wirkung entfaltet. Beispiele gibt es dafür am laufenden Band – u.a. in der Mietenpolitik, wo wir so gut wie nichts gegen die asozialen Mietsteigerungen erreichen, die wir mitverursacht haben. Natürlich muss man in der GroKo Kompromisse machen, aber die Partei und die Fraktion müssten mehr wollen, mehr einfordern als sie es bisher tun und klar formulieren, wo es bei Rot pur hingehen würde. Freudestrahlendes Verkaufen von mittelmäßigen und teilweise wirkungslosen Kompromissen schadet der Glaubwürdigkeit. Ja, regieren ist generell besser als zu opponieren – aber nicht, wenn der Machterhalt und die GroKo immer mehr zum Selbstzweck werden. Wenn die Glaubwürdigkeit verloren geht und der Einfluss dadurch generell schwindet. Politik darf nicht immer nur der Kurzfristigkeit folgen, wenn man langfristig erfolgreich sein möchte. Vor allem darf man sich nicht immer von der Angst leiten lassen, der Angst vor Neuwahlen, der Angst die Posten und Positionen zu verlieren. Jürgen Habermas bringt es auf den Punkt: „Ich bin der Auffassung, dass die politischen Eliten – und an erster Stelle die verzagten sozialdemokratischen Parteien – ihre Wähler unterfordern. Anstatt Mut zum eigenen Gedanken zu beweisen und die Menschen mit Blick auf die Finanz- und Flüchtlingskrise für eine europaweite Solidarität zu gewinnen, versinken die politischen Eliten im Sog eines kleinmütigen, demoskopisch gesteuerten Opportunismus kurzfristiger Machterhaltung“.

Keine Vision, keine Kapitalismuskritik, keine Alternative

Wir erleben in ganz Europa eine existenzielle Krise der Sozialdemokratie. Vor allem dort, wo sie weiterhin sklavisch festhält an der Politik des Neoliberalismus‘ und Finanzkapitalismus‘, welche die Ungleichheit fördert, die Chancengleichheit schwächt und vor allem nur den obersten 10% der Gesellschaft riesige Vermögen einbringt. In üblen Momenten hat die Sozialdemokratie diese Politik mit angeheizt, teilweise sogar erst möglich gemacht und in guten Momenten war sie zuletzt ein Reparaturbetrieb, um die schlimmsten Auswirkungen des Systems abzumildern. Immer war es höchstens ein „Rumdoktern“ an Symptomen. Es wäre Aufgabe der Sozialdemokratie grundlegend Dinge in unserem kapitalistischen System in Frage zu stellen, Probleme klar aufzuzeigen und neue Lösungen zu entwickeln, welche die Gesellschaft gerechter und nachhaltiger machen. Die Vision, die fundamentale Kritik am Neoliberalismus und der Mut, sich im Kampf für eine Mehrheit auch mit den Mächtigen und mit Lobbyist*innen anzulegen, sind aber abhandengekommen. Und selbst massive Abwanderungen von Mitgliedern und Stimmen bringen sie nicht zur Umkehr. Es gibt Ausnahmen, wie die Labour Party, weil diese sich vollständig erneuert und erweitert hat und einen radikaleren Kurs gegen die Konservativen einschlägt und damit erfolgreich ist. Aber auch daraus lernt die SPD nichts, ein „Weiter-so“ folgt einem „Weiter-so“, egal was passiert und wie massiv der Glaubwürdigkeitsverlust auch ist. Massiv ärgert mich auch der Umgang mit der Tatsache, dass eine rechte Bewegung stark geworden ist und nun auch eine rechte Partei im Bundestag sitzt. Kein Wort davon, dass wir selbst eine Mitschuld daran tragen, dass dies möglich wurde. Wie viele haben davor gewarnt, dass dauerhafte Große Koalitionen die Ränder stärken, dass zunehmende Ungleichheit und fehlende klare Alternativen eine Proteststimmung stärken, die am Ende von Rattenfänger*innen genutzt werden kann? Wie viele Regionalkonferenzen und Debattencamps werden noch abgehalten, wo man über Erneuerung diskutiert und die Ergebnisse dann in der Schublade verschwinden? Wie häufig „kehren wir noch zur Sacharbeit zurück“? Wie viele Wahlen müssen wir noch verlieren und uns dann anhören, dass jetzt vor allem Ruhe zu bewahren sei? Wie häufig wird noch vor allem auf die eingeprügelt, die sich diesem Dogma nicht mehr unterordnen wollen und deswegen isoliert werden?

Absturz ohne Lerneffekt

Es fehlt einfach der Mut zur kritischen Analyse. Schuld sind in der Regel die anderen Parteien oder die Menschen, die nicht verstehen wollen, wie gut wir es doch meinen. Selbst jetzt im freien Fall, nach desaströsen Ergebnissen in Bayern und Hessen, nach einem kontinuierlichen Niedergang bei den Mitglieds- und Wähler*innenzahlen, gibt die gesamte Führung keine Fehler zu, zieht niemand die Notbremse. Dies kann ich vor Niemandem mehr rechtfertigen und da reicht es nicht zu sagen, ich setze mich ja dafür ein, dass es anders läuft. Offensichtlich bin ich auch nicht alleine mit der Ansicht, dass ich der SPD im derzeitigen Zustand nicht mehr zutraue die dringenden Probleme zu lösen. Umfragen zeigen hier erschreckende Ergebnisse. Zahlen zur Frage „Welcher Partei trauen sie zu, mit den Problemen in Deutschland am besten fertig zu werden?“ (Quelle: https://www.presseportal.de/pm/72183/4093933)

SPD: 4%
CDU/CSU: 18%
Die Grünen: 10%
Den übrigen Parteien: 13%
Gar keiner Partei: 55%.

Wir haben in gut 20 Jahren von 1995 bis 2016 fast die Hälfte unserer deutlich über 800.000 Mitglieder verloren. Die Neueintritte durch den Schulz-Effekt und die NoGroKo Kampagne sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und die Austritte häufen sich gerade wieder massiv. Bei den Bundestagswahlen haben wir von 1998 bis 2017 mehr als die Hälfte unser einst 20 Millionen Wähler*innen verloren. Wenn man die letzten Prognosen als Grundlage nimmt, dann liegt der Rückgang bei etwa 2/3 der Stimmanteile, die wir mal erzielen konnten. Selbst gegenüber dem desaströsen Wahlergebnis von 2017 verlieren wir noch mal ca. 1/3 der Zustimmung. Aktuelle Werte der SPD bei der Sonntagsfrage:

INSA 05.11.2018: 13,5%
Emnid 03.11.2018: 14%
FORSA 03.11.2018: 13%

In Bayern schafft man es, das Ergebnis in einer Legislaturperiode zu halbieren und auch in Hessen verliert man mehr als 1/3 der Stimmen, obwohl man auf die richtigen Themen gesetzt hat, wohlgemerkt in beiden Fällen als bis dahin größte Oppositionspartei und in einer Phase der großen Unzufriedenheit mit der dort regierenden Union, die auch große Verluste erlebt. Wenn einen die Menschen nicht einmal mehr dann wählen, wann denn dann? Verluste der SPD bei den Landtagswahlen 2018 in Bayern und Hessen:

Bayern: 9,7% (1.309.078 Stimmen) — Verlust (zu 2013): -11% (-1.128.323 Stimmen)
Hessen: 19,8% (570.166 Stimmen) — Verlust (zu 2013): -10,9% (-391.730 Stimmen).

Trotz allem stellt man sich nach einer Klausur lächelnd vor die Kamera und verkündet, wir haken uns unter und machen weiter. Inhaltlich unterstreicht man Punkte, die sowieso schon im Koalitionsvertrag stehen. Natürlich ist es keine leichte Situation, aber jede*r muss doch erkennen, dass dieser Kurs katastrophal ist und so weitermachen uns nicht weiterhilft? Was ist dies für ein Signal an die Menschen, die wir verprellt haben und die sich eigentlich nach einer starken SPD sehnen?

Stromlinienförmig zum Wahlverein

Die Parteistruktur ist überholt, schwerfällig und lässt Menschen nicht zu, die nur partiell oder in modernen Strukturen mitarbeiten möchte. Vor allem die jungen Generationen sprechen wir schon länger nicht mehr an. Aber selbst, wenn die Partei sich strukturell modernisieren würde, wäre dies längst nicht mehr ausreichend, die Menschen zu gewinnen. Dies tut man am Ende dann doch über Themen und Köpfe. Wenn die Themen unklar sind und die Köpfe nicht mehr glaubwürdig und überzeugend, dann hilft auch Modernität nicht. Dann gilt es inhaltlich klare Linien zu ziehen und frische und glaubwürdige Köpfe zu präsentieren. Das passiert aber nicht. Die Vielfalt, welche die Partei noch besitzt, wird nicht gefördert, nicht herausgestellt und erst Recht nicht oben abgebildet. Die Talente in der Partei werden nicht genutzt, weil erstmal andere „dran“ sind. Dies ist Gift für die Motivation junger Mitglieder, deren Engagement die Partei dringend bräuchte, gerade im Prozess einer Erneuerung. Die vielen Kritiker*innen der GroKo wurden kaltgestellt. Auch der kritische Jusovorsitzende, der nie Personen oder die Struktur generell in Frage gestellt hat, wird argwöhnisch betrachtet und abwertend beurteilt. Bei der Aufstellung der Kandidat*innen für die Europawahl fallen alle Jusos gnadenlos durch. In der Bundestagsfraktion werden kritische Meinungen ignoriert oder zurechtgewiesen. Kein*e GroKo-Kritiker*in wurde eingebunden, bekam eine Funktion. Es gab keinen Versuch, die Breite der Partei auch bei der Verteilung von Aufgaben innerhalb der Fraktion oder der Ministerien zu berücksichtigen. Wenn es wenigstens die Möglichkeit gebe, in wichtigen Gremien wie der Bundestagsfraktion mit Kritik Gehör zu finden, wie dies zu Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit häufiger der Fall war. Ich habe mich noch nie in allen Themen und Bereichen durchgesetzt, konnte aber gut damit leben, wenn es zumindest eine offene, ehrliche Debatte gab, in der die anderen Meinungen zugelassen wurden und am Ende doch zumindest auch ein wenig Berücksichtigung gefunden haben. Rückblickend war die Partei immer dann am stärksten, wenn heftig diskutiert und leidenschaftlich um die Sache gerungen wurde und man sich dann zusammengerauft hat. Wenn man Kritiker*innen aber keinen Raum gibt, Kritik unterdrückt oder ignoriert, dann wird man sich auch nicht verändern und erneuern. Dann bleiben am Ende die Ja-Sager*innen übrig. Menschen, die stromlinienförmig sind, sich anpassen und vor allem Karriere machen wollen. Die aus dieser Motivation immer den Kurs stützen und loben. Es braucht aber viel mehr Menschen in der Partei, die mal quer und nach vorne denken. Und diese müssten endlich gehört werden. Stattdessen ist die Partei immer mehr zu einem Wahlverein geworden und dieser Wahlverein hat nicht zu kritisieren. Anträge der Parteibasis schaffen den Weg nicht nach oben und wenn doch, werden sie von der Antragskommission abgebügelt. Selbst, wenn sie tatsächlich auf dem Bundesparteitag beschlossen werden, interessiert das die Fraktion wenig. Dennoch gibt es den Aufstand der Basis nicht. Es ist vielmehr Resignation und Hilflosigkeit eingekehrt. Zum Teil verständlich, wenn man nicht ernst genommen wird. Manche halten vor Ort aus Pflichtgefühl und Solidarität schon seit Jahren den Kopf hin für eine Politik, die sie nicht vollen Herzens unterstützen. Wegen dieser Mitglieder, die doch so gern wieder stolz sein würden auf ihre Partei, die nicht immer nur das kleinere Übel verteidigen wollen, tut es mir besonders leid – deshalb konnte ich mich so lange nicht trennen. Jetzt befürchte ich, ist es besser für beide Seiten, wenn ich gehe: Vielleicht öffnen sich doch noch einige Augen, werden doch noch einige wach, wenn Menschen wie ich Konsequenzen ziehen.

2. Inhaltliches

Bruch des Koalitionsvertrages: Erhöhung des Militäretats und Waffenexporte

Früher stand die Sozialdemokratie für Frieden und Abrüstung. Jetzt wird der ohnehin schon große Verteidigungshaushalt mit zusätzlichen Milliarden aufgebläht werden, während für Infrastruktur-, Bildungs-, Integrations- oder soziale Projekte das Geld nicht reicht. Bereits in diesem Jahr geben wir 38,5 Milliarden Euro für das Militär aus. Allein 2019 sollen weitere 4,7 Milliarden dazukommen – das ist doppelt so viel wie der gesamte Haushalt des Umweltministeriums. Die nächsten Erhöhungen sind geplant. Damit bewegen wir uns in großen Schritten auf das von Trump propagierte 2%-Ziel der NATO zu, das die SPD eigentlich immer abgelehnt hat. Das ist absurd und grundfalsch. Zudem haben wir im Koalitionsvertrag eigentlich festgeschrieben, zusätzliche finanzielle Spielräume (zum 51. Finanzplan) prioritär dafür zu nutzen, die Mittel für Krisenprävention, humanitäre Hilfe, auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit im Verhältnis von 1:1, also in gleichem Maße wie die Steigerung der Militärausgaben, zu erhöhen. Trotz einer Erhöhung der entwicklungspolitischen Ausgaben in 2019 gibt es hierfür bei Weitem nicht so viel mehr Geld wie für das Militär. Das belegt nicht nur die absolut falsche Prioritätensetzung bei der Haushaltsplanung, sondern ist ein klarer Bruch des Koalitionsvertrags. Deutschland ist weiterhin einer der größten Waffenexporteure. Obwohl im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, keine Waffen mehr an die Parteien im Jemen-Krieg zu liefern, wurden unlängst trotzdem Deals mit Saudi-Arabien, den Emiraten und Jordanien genehmigt. Im Jahr 2018 wurden bisher Einzelgenehmigungen für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien im Gesamtwert von 416 Millionen Euro erteilt, darunter Patrouillenboote und Radarsysteme für die Ortung feindlicher Artillerie. 2017 waren es noch Rüstungsexporte in Höhe von 254,5 Millionen Euro. Das ist eine dramatische Steigerung der Rüstungsexporte an Saudi-Arabien und damit ein weiterer Bruch des Koalitionsvertrags.

Ungleichheit wird zementiert statt bekämpft

Die Ungleichheit in Deutschland ist auch im internationalen Vergleich immens und verfestigt sich weiter. Die reichsten 10% der Deutschen besitzen zusammen über 60% des gesamten Vermögens, während die Hälfte der Gesellschaft sich gerade einmal 2-3% teilen muss. In einem so reichen Land sind etwa 13 Millionen Menschen von Armut bedroht. Jedes fünfte Kind wächst heute in Armut auf. Auch unter Senior*innen und vor allem bei Alleinerziehenden wird der Armutsanteil immer größer. Viele Beschäftigte können kaum von ihrem Lohn leben. Es gibt bis jetzt keine angemessene Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, keine klare Reform von Hartz IV, keine Armutsbekämpfung als Schwerpunkt und wenig Unterstützung von Alleinerziehenden. Jede zweite Rente liegt unter 800 Euro. Immer mehr Menschen gehen in Rente und können davon nicht leben. Das ist obszön. Und was passiert? Beim Thema Rente wird links geblinkt und dann kommt nur ein Weiter-so in Form einer Stabilisierung des Rentenniveaus anstatt einer dringend notwendigen richtigen Rentenreform, mit der wir Altersarmut effektiv bekämpfen. Ebenso wenig gibt es wirksame Reformen im Pflege- und im Gesundheitsbereich. Pflegekräfte leiden immer mehr unter Überarbeitung und es ändert sich nichts am Pflegenotstand. Insgesamt funktionieren unsere Sicherungssysteme immer schlechter. Wir brauchen eine wirkliche Sozialwende statt Pflaster und Lippenbekenntnissen.

Klima- und Umweltschutz werden vernachlässigt

Wir galten mal als weltweit geachtete Vorreiter*innen des Klimaschutzes. Jetzt verfehlen wir unser versprochenes Klimaziel um mehrere Prozent, weil wir keine ausreichenden Maßnahmen ergreifen. Statt Vorreiter*in zu sein, gehören wir beim Thema Klimaschutz in der EU mittlerweile zu den Bremser*innen. Mit Deutschland wird es sicher keine notwendige Erhöhung der EU-Klimaziele auf 45% Reduktion im Jahr 2030 geben. Unsere Verfehlungen werden uns aber aufgrund der eingegangenen Verpflichtungen teuer zu stehen kommen. Es gibt Schätzungen, nach denen Deutschland bis 2030 bis zu 60 Milliarden Euro (!) für CO2-Zertifikate ausgeben muss, um das zu viel ausgestoßene Kohlendioxid zu kompensieren. Obwohl Klimaschutz laut etlicher Umfragen bei der Bevölkerung nach wie vor zu den wichtigsten Themen gehört, gibt die SPD ihre einstige, auch ökologisch orientierte Politik, geprägt durch Ernst Ulrich von Weizsäcker, Hermann Scheer und Michael Müller, immer mehr auf. Im Gegenteil, es werden sogar andere Klimaschützer*innen diskreditiert. Leute, die sich primär für den Klimaschutz engagieren, werden in einen Topf mit den Klimawandelleugner*innen geworfen. Der Aufschrei bleibt aus, dabei müssten nicht nur Umweltpolitiker*innen hier eigentlich Amok laufen. Statt einen klaren Fokus auf Klimaschutz zu setzen, wird Geld für Klimaerwärmung ausgegeben. Jedes Jahr fließen mehr als 50 Milliarden Euro an klimaschädlichen Subventionen. Auch beim Hambacher Forst regiert die Vergangenheit und Lobbypolitik anstatt sich vorrangig für einen gelungenen Strukturwandel und nachhaltige Zukunftsstrategien für die Menschen in der Kohleregion einzusetzen. Die Liste ließe sich mit dem Dieselskandal und anderen Missständen fortsetzen.

Keine ausreichenden Konzepte für den Arbeitsmarkt und für bezahlbares Wohnen

Wir galten mal als die Partei, die sich den großen Herausforderungen der Arbeitswelt annimmt. Heute ist die Bilanz ernüchternd, trotz niedriger offizieller Arbeitslosenzahlen: Nach all den Jahren Regierungsbeteiligung ist die prekäre Beschäftigung auf einem Höchststand: zu wenig Einkommen und mangelnde Absicherung sind für viele an der Tagesordnung. Wir haben Leih- und Zeitarbeit, Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern, unfreiwillige Teilzeit und den ausufernden Niedriglohnsektor nicht in den Griff bekommen. Viele Arbeitnehmer*innen können von ihrem Gehalt nichts sparen, noch mehr werden eine unwürdige Rente erhalten. Und ja, wir haben nun endlich einen Mindestlohn eingeführt, aber dieser ist viel zu niedrig und viele Menschen bekommen ihn gar nicht. Nicht zuletzt hat die SPD es in all den Jahren nicht geschafft, sich ehrlich mit den Folgen der Hartz-IV-Gesetzgebung auseinanderzusetzen und entsprechend zu handeln. Wir hätten erkennen müssen, was Hartz-IV angerichtet hat und wir hätten rechtzeitig deutliche Korrekturen einleiten müssen. Für 40% der Haushalte liegen die Kosten für Miete bei mehr als 30% ihres Einkommens. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Sozialwohnungen drastisch reduziert. Menschen werden aus ihren Wohnungen verdrängt und finden keine angemessene Unterkunft mehr, die sie bezahlen können. Auch so geht sozialer Zusammenhalt verloren. Weil die GroKo es sich nicht mit der Eigentumslobby verscherzen will, sind die angekündigten Maßnahmen so weichgespült ausgefallen, dass sie allenfalls ein Tropfen auf dem heißen Stein sein werden. Eine Senkung der Modernisierungsumlage von 11 auf 8% ist ein Witz. Heute bei der langanhaltenden Niedrigzinsperiode ist die Umlage eigentlich nur noch ein staatlich erlaubter Umverteilungsmechanismus, der dazu führt, dass noch mehr Geld von den Mieter*innen zu Immobilien- und somit Kapitaleigentümer*innen fließt. Ein deutlicher Schutz vor hohen Mietersteigerungen oder Kündigungen? Fehlanzeige. Auch die Mietpreisbremse ist bis jetzt harmlos. Sie wird auch nur eine Wirkung erzielen, wenn Verstöße systematisch verfolgt und mit abschreckenden Sanktionen belegt werden.

Keine Eindämmung des Lobbyismus‘

Der Einfluss von großen Konzernen auf die Politik ist ungebrochen groß. Die Themen, bei denen der Staat versagt und die Lobby siegt, sind zahlreich. Etliche Skandale haben uns in den letzten Jahren Milliarden gekostet, während für andere Dinge angeblich so oft kein Geld da ist. Die Bankenlobby ist das beste Beispiel. Allein die „Cum-Ex“-Geschäfte kosteten den deutschen Staat über 30 Milliarden Euro. Jahrelang haben Banken, ihre Kanzleien und ihre superreichen Kund*innen über Steuertricks die Allgemeinheit um ihr Geld gebracht. Ihre Lobbytrupps machten den Weg für diesen Skandal frei. Teilweise schrieben sie sogar die Gesetze für ihre eigene Regulierung. Betrügerische Strukturen gab es auch in der Autoindustrie, die Abschaltsoftware einsetzte und unseren gesundheitlichen Schaden in Kauf nahm. Die Autoindustrie ist fest mit der deutschen Politik verbandelt. Die Ergebnisse des Dieselgipfels zeigen einmal mehr, dass die Lobby der Autoindustrie die Rückendeckung der Politik hat. Die Geschädigten – betroffene Autobesitzer*innen und letztlich alle, die hohen Abgaswerten ausgesetzt sind – bleiben auf den Kosten sitzen. Es dürfte sich um mehrere Milliarden Euro handeln, die die Autoindustrie auf uns abwälzt. Um all dies zu verhindern, gibt es viele sinnvolle Vorschläge, die schon lange auf dem Tisch liegen: Ein Lobbyregister, das endlich Transparenz über Akteur*innen und Finanzen schaffen würde. Eine wirksame Karenzzeit für Kanzler*in, Minister*innen, Staatssekretär*innen und Abgeordnete, die verhindern würde, dass man sofort nach der politischen Karriere in einen Lobbyjob wechselt. Ein legislativer Fußabdruck, anhand dessen man sehen könnte, wer an Gesetzen mitgearbeitet hat. Die Reform der Parteienfinanzierung, die dafür sorgen könnte, Unternehmensspenden zu deckeln und transparenter zu machen. Und nicht zu vergessen, die komplette Offenlegung der Nebentätigkeiten von Abgeordneten. Daneben müssten wir dringend auch darüber diskutieren, wie wir das Parlament lebendiger und wieder zum Ort der wichtigen Debatten unserer Zeit machen. Zu all diesen Themen habe ich immer wieder Vorschläge unterbreitet, Diskussionen in Gang gesetzt und in einigen Bereichen hat die SPD auch ihre Beschlusslage geändert. Aber in den meisten Punkten versteckt sie sich hinter der Union, die alles nicht mitmachen möchte. So wird die SPD kein Motor der Veränderung. Schlimmer noch, sie musste peinlicher Weise auch noch durch eine Klage erst dazu gezwungen werden offenzulegen, wem sie denn einen Hausausweis für den Bundestag ausstellt. Auch der „Rent-a-Sozi“ Skandal bleibt in Erinnerung.

Sozialdemokratische Finanzpolitik – Fehlanzeige

Dass ein Sozialdemokrat das Finanzministerium führt, ist nicht spürbar. Als erstes holt man sich ausgerechnet einen Goldman-Sachs-Banker ins Haus. Die schwarze Null wird weiter verteidigt, obwohl wir so dringend mehr staatliche Investitionen bräuchten. Mindestens der Erhalt öffentlicher Infrastruktur muss gesichert sein. Unter der SPD-Führung wird der Verteidigungshaushalt massiv aufgestockt – allein von 2018 auf 2019 um ca. 12% (4,7 Milliarden Euro). Die Budgets anderer wichtiger Ministerien wie Umwelt/Klima, Gesundheit/Pflege oder Bildung/Forschung verändern sich im Verhältnis dazu deutlich weniger. Gerade im Bereich der Steuern hätte die SPD sich für mehr Gerechtigkeit starkmachen müssen. Stattdessen sind wir bei der Erbschaftssteuer eingeknickt, schrecken vor einer Finanztransaktionssteuer zurück, gehen nicht ausreichend gegen große Konzerne vor, die sich ihrer Pflicht entziehen. Auch Einkünfte aus Arbeit und Kapital werden immer noch unterschiedlich besteuert, was im Schnitt sehr vermögende Personen, die ihr Geld für sich arbeiten lassen, besser stellt als arbeitende. Zu den Cum-Ex-Geschäften heißt es, die seien kein Thema mehr. Wirkliche Konsequenzen: Fehlanzeige. Die Sparpolitik der EU für überschuldete Mitgliedstaaten wie Griechenland und Portugal war fatal, wird aber von der SPD nach wie vor nicht infrage gestellt. Heute wissen wir: den Preis haben vor allem die kleinen Leute bezahlt. Nach 10 Jahren Bankenkrise wissen wir auch: die Verursacher*innen wurden nicht zur Verantwortung gezogen – im Gegenteil, wir sind vor den Banken eingeknickt. Wir haben es zugelassen, dass Finanzakteur*innen mit Ländern und Existenzen wie im Casino pokern und dafür nicht bestraft werden. Harte Regeln für Finanzjongleur*innen gab es seither nicht. Es stellt sich die Frage, warum die SPD mit mehr Gerechtigkeit Wahlkampf macht, sich das wichtige Finanzministerium erkämpft und dann Schäubles Politik einfach fortsetzt. Wo bleibt die sozialdemokratische Handschrift, der sozialdemokratische Gestaltungswille?