Im Kaiserreich

Die Geburtsurkunde

Am 1. Mai 1896 übersandte der Königliche Landrath zu Horde seinem Vorgesetzten, dem „Hochwohlgeborenen Königlichen Regie-rungs-Präsidenten“ Winzer zu Arnsberg, ein Schreiben. Entsprechend einer Verfügung hatte er ein Verzeichnis erstellt über die nach seinen Ermittlungen „geselligen Vereine socialdemokratischen Characters im Kreise Hörde“. Recht ausführlich äußerte er sich zu Position 3 seiner Liste, dem „Gesangverein Bruderbund zu Eichlinghofen“: „Die Mitglieder des genannten Vereins ge­hören sämmtlich der socialdemokratischen Part­hei an. Der Vorsitzende Heinrich Hansmann zu Eichlinghofen ist ein nicht unbedeutender Agita­tor der Parthei, welcher in allen in Eichlinghofen und Umgebung abgehaltenen Versammlungen als Redner auftritt. In den Gesangstunden, sowie bei dem alljährlich vom Verein gefeierten Stiftungs­fest, werden nur socialdemokratische Freiheitslie­der gesungen. (Wie empörend!!) Zu dem Stiftungs­feste werden stets auswärtige Vereine eingeladen. Die Festreden werden von den Rednern der Parthei gehalten und dienen nur als Agitationsmittel für die Parthei. Der Festsaal würde mit rothen Fahnen und Büsten hervorragender Sozialdemokraten ausge­schmückt werden, wenn der Wirth hiermit einver­standen wäre. Der vorgenannte Verein feiert im Mai ds. Js. wieder ein Stiftungsfest mit Fahnenweihe und hat hierzu schon mehrere Vereine eingeladen. Karten zu die­sem Fest sind bereits in großer Zahl verkauft. Es ist anzunehmen, dass das Fest genau so wie in frü­heren Jahren, in der oben geschilderten Weise ge­feiert wird. Eine Festzeitung wird nicht ausgege­ben. Diese Feste werden von Frauen, Kindern und Lehrlingen sehr stark besucht. Außer dem Stiftungs­fest werden von dem Vereine einige Kränzchen im Laufe des Jahres gefeiert. Der Verein gehört dem Arbeiter ‚Sängerbund Westfalen‘ an.“ Nachdem er sich so verausgabt hatte, fiel ihm zu Position 4 nicht mehr viel ein. Unter dieser Nummer war der „Männer Gesang-Verein zu Barop“ verzeichnet. Der Herr Landrat ver­merkte nur: „Zu 4. Wie vor nur mit dem Zusätze, dass die Feier des Stiftungsfestes noch unbekannt ist. Vorsitzender ist Carl Stühmeyer zu Barop.“ Damit war es amtlich. Die gefährlichen und umstürzlerischen Sozialdemokraten hatten vor Ort eine Organisation gebildet. Dieses Dokument kann als die erste urkundliche Er­wähnung angesehen werden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass der Herr Landrat hier eine Geburtsurkunde für ein Kind ausgefertigt hatte, das längst kein Säugling mehr war, sondern schon recht stramm auf seinen jungen Beinen stand. Denn erste sozialdemokratische Spuren sind viel früher zu finden. Begonnen hatte die Entwicklung schon Jahre zuvor.

Die ersten Spuren

Barop hatte sich im Laufe des vorigen Jahr­hunderts von einer landwirtschaftlich struk­turierten Ortschaft zu einer immer mehr durch Bergbau und Industrie geformten Gemeinde entwickelt. Zugewanderte Arbeitskräfte ließen die Be­völkerungszahl anschwellen. Das Leben der Arbeiter und Bergleute war geprägt von lan­gen Arbeitszeiten, niedrigen Einkommen, mangelndem Arbeitsschutz, periodisch wie­derkehrenden Wirtschaftkrisen und einer fast vollkommen fehlenden sozialen Absicherung. Unter diesen Umständen fanden sich auch in Barop Menschen aus der arbeitenden Be­völkerung, die mit der aufstrebenden soziali­stischen Arbeiterbewegung sympathisierten. Anfangs konkurrierten zwei Flügel, der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiter Verein (ADAV/Richtung Lassalle) und die 1869 gegründete Sozialdemokratische Arbei­terpartei (Richtung Bebel/Liebknecht) mitein­ander, schlössen sich aber im Mai 1875 auf dem Parteitag zu Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammen. Die Vereinigung und Bündelung der Kräfte kam gerade zur rechten Zeit. Das Deutsche Reich befand sich wieder einmal auf dem Weg in eine Wirtschaftsrezession, die „Gründerkrise“. Die Einigung des Deutschen Reiches im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und die Kontributionen des besieg­ten Frankreich hatten zu einem wirtschaftli­chen Boom geführt. Die überhitzte Konjunk­tur brach nun zusammen. In dieser Situation fielen den Herrschenden nur altbekannte Rezepte ein. Wie üblich zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung. Preußens Handelsminister Achenbach for­derte eine „Ermäßigung der Selbstkosten“. Übersetzt hieß das z. B. für die Bergleute: höhere Arbeitsleistungen bei sinkenden Löh­nen. Schon bald regte sich Widerstand; auch in Barop und Umgebung. In Dortmund formierte er sich um die beider sozialdemokratischen Bergleute Heinrich Winner und Ludwig Schröder. Im gesamten Kreisgebiet wurden Versammlungen abgehal­ten. Am 13. Juni 1875 fand beim Wirt „Köppencastrop“ am Baroper Bahnhof eine „Große Bergarbeiter-Versammlung für Barop Eichlinghofen und Umgebung“ statt. Nur die Tagesordnung ist überliefert. Sie lautete:

Punkt l Der Erlaß des Handelsministers und die Lage der Bergarbeiter
Punkt 2 Die Vereinigung und die Lage der Bergarbeiter.

Hier wird man, wie auch auf anderen Versammlungen, beklagt haben, dass der Lohn des Bergarbeiters gerade zur Fristung des Lebens nicht reiche und ein menschenwürdiges Dasein damit nicht geführt werden könne. Die Gewinne der Boom-Jahre seien ausschließlich an die Unternehmer geflossen. Der Arbeiter habe nur Pflichten, aber keine Rechte im Staat. Man warb für eine Vereinigung der Bergarbeiter. Im September wurden in Dort­mund von Bergleuten aus Essen, Bochum und Dortmund die Statuten einer solchen Vereinigung beschlossen. Ein Komitee star­tete eine heftige Werbekampagne für die Vereinigung. Ende September berief man eine Versammlung für Barop, Hombruch und Eichlinghofen in die Gaststätte Nolte an der Chaussee nach Eichlinghofen ein. Für den 3. Oktober setzte man ein Treffen für Hom­bruch, Eichlinghofen, Barop, Kirchhörde und Umgebung im Lokal des Wirtes Thiemann an. Doch dann reißen die Nachrichten ab. Die Behörden hatten wohl eingegriffen und die Statuten nicht genehmigt. Schon im nächsten Jahr lassen sich erneut Spuren finden. Am 10. Januar 1877 sollten Reichstagswahlen stattfinden. Im Wahlkreis Dortmund-Horde kandidierte, wie bereits 1874, der ehemalige ADAV-Vorsitzende Carl Wilhelm Tölcke. Er wusste, bei den Bergar­beitern in den Gemeinden südlich Dortmunds konnte er Wähler für sich mobilisieren. Eine Wahlkundgebung setzte er deshalb am Hei­ligen Abend 1876 in Barop an. Am Wahltag entschieden sich 15,5 % der Wähler für ihn. Einen Teil der insgesamt 3563 Stimmen wird man auch aus Baroper Wahlurnen gezogen haben. Eine Stimmabgabe für Tölcke war mutige Tat, denn von einer geheimen Wahl konnte nicht die Rede sein. Und mancher Arbeitgeber „honorierte“ den Einwurf eines sozialdemokratischen Wahlzettels mit der Entlassung. Auch dem Staat wurde diese Bewegung, die bei den Wahlen ständig bessere Ergebnisse und steigende Wählerzahlen verbuchen konnte, zusehends unheimlicher. Alle Versu­che, den Einfluss der Partei auf die Arbeiter­schaft einzudämmen, zeigten nur begrenzt Erfolge. Da musste man schon massiver vor­gehen.

Das Sozialistengesetz

Einer der härtesten Gegner der Sozialdemo­kratie war Reichskanzler Bismarck. Er such­te nur einen Anlaß, um gegen die, wie er meinte, „bedrohlichen Räuberbande, mit der wir gemeinsam unsere Städte bewohnen“ vorzugehen. Zwei erfolglose Attentate auf Kaiser Wilhelm l. im Mai und Juni 1878 bie­ten ihm die willkommene Gelegenheit, lange gehegte Verbotspläne zu realisieren. Zwar war nur einer der Attentäter zeitweilig Mitglied der Sozialdemokratie gewesen, auch distan­zierte sich die Partei umgehend von den ter­roristischen Akten, doch das scherte Herrn Bismarck wenig. Er ließ den Reichstag, der bisher entsprechende Verbotsinitiativen ab­gelehnt hatte, auflösen. Justiz, Presse und konservative Parteien trommelten gegen die mörderischen Sozialdemokraten. Kandidaten und Agitatoren wurden verhaftet, Wahlmate­rial beschlagnahmt und Versammlungen ver­boten. Bei den „Attentatswahlen“ büßte die SPD 56.000 Wähler ein. Das neue Parlament zeigte sich willfähriger. Im Oktober 1878 ver­abschiedete es das „Gesetz gegen die ge­meingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, kurz das „Sozialistengesetz“. Das Gesetz verbot alle sozialdemokratischen Organisationen, Versammlungen und Pres­seerzeugnisse. Als einzige legale Tätigkeit verblieb nur noch die Beteiligung an Land-und Reichstagswahlen. Befristet war dieses Gesetz auf drei Jahre, doch dreimal verlän­gert sollte es bis zum 30. September 1890 gültig bleiben. Für die Sozialdemokratie bedeutet diese Zeit­spanne eine Zeit der Dunkelheit. Wer sich öffentlich zu seiner politischen Haltung be­kannte, eingeschmuggelte Presseerzeugnis­se vertrieb oder erwarb, der stand schon mit einem Bein im Gefängnis. Schriftlich wurde vieles überhaupt nicht niedergelegt oder so­fort wieder vernichtet. So gibt es nur wenige und vage Spuren vor Ort über die Entwick­lung in der Verbotszeit.

Neuorganisation

Im Januar 1890 lehnte der Reichstag eine weitere Verlängerung des „Sozialistengeset­zes“ über den 30. September hinaus ab. Schon einige Zeit zuvor zeigte sich in Dort­mund und Umgebung die Bereitschaft von Anhängern der Sozialdemokratie, sich wie­der zu organisieren. Der erste Anstoß ging von den Bergleuten aus. Nach Streiks im Mai 1889 gründeten am 18. August des Jahres im Gasthof Ziegler Delegierte verschiedener Zechen den „Verband zur Wahrung und För­derung bergmännischer Interessen für Rhein­land und Westfalen“, den „Alten Verband“ und Vorläufer der IG Bergbau. Viele Beteiligte sollten bald auch in sozialdemokratischen Organisationen auftauchen. Rasch entstan­den Zahlstellen in den Bergarbeitergemein­den des Dortmunder Südens. Im März 1889 war in Dortmund ein „Verein für volkstümli­che Wahlen“ mit sozialdemokratischer Ten­denz entstanden, der die Reichstagswahlen im Februar 1890 vorbereiten wollte.

In Barop war man übrigens mit der Wahlagi­tation recht erfolgreich, stimmte doch mehr als die Hälfte der Wähler für den sozialde­mokratischen Kandidaten. Daran sollte sich in der Kaiserzeit auch bei späteren Wahlen nichts ändern. Seit dem 1. Oktober konnte wieder offen für die Sozialdemokratie geworben werden. In Dortmund erschien die ersten Nummer der 1878 eingestellten „Westfälischen Freien Presse“. Doch noch war man vorsichtig. Das gültige preußische Vereinsgesetz wies so manche Fallstricke auf. So verbot es Verei­nen „welche bezwecken politische Gegen­stände in Versammlungen zu erörtern, … mit anderen Vereinen gleicher Art zu gemeinsa­men Zwecken in Verbindung“ zu treten. Frau­en waren nicht nur vom Wahlrecht ausge­schlossen, ihnen war es auch verboten, an entsprechenden Versammlungen teilzuneh­men. Eine Vereinsgründung hätte also die politische Arbeit mehr behindert als gefördert. Man hätte sich der staatlichen Überwachung ausgesetzt. Noch in späteren Zeiten sollte es oft passieren, dass der anwesende polizeili­che Überwachungsbeamte zur Pickelhaube griff, sich erhob und die Versammlung mir nichts dir nichts auflöste. Schon die Anwe­senheit eines Lehrlings oder einer Frau konn­te zum Anlass genommen werden. Man beschränkte sich deshalb anfangs, ein Vertrau­ensmännersystem einzuführen. Die Vertrau­ensleute wurden in öffentlichen Volksver­sammlungen gewählt. Für Orte, wo dies nicht gelang, übernahm der Bezirksvertrauens­mann die Funktion. Schon im Oktober 1890 wurde aber in Barops Nachbargemeinde Eichlinghofen eine erfolgreiche Volksver­sammlung durchgeführt. Aus Barop bleiben die Nachrichten aber noch immer dürftig. Doch zumindest erste Anzei­chen sind nun zu finden. Wann ein Vertrau­ensmann gewählt wurde, ist nicht genau be­kannt, aber es gab ihn. Denn als man später offiziell zur Gründung eines Ortsvereins schritt, schickte man dem neuangelegten Pro­tokollbuch ein Vorwort voraus. Dies war un­terzeichnet von Karl Stühmeyer, der sich da­mals als Ortsvertrauensmann bezeichnete. Seit 1891 gehörte der Knappschaftsälteste Freudewald der Gemeindevertretung an. Ab 1893 saß ihm Karl Stühmeyer zur Seite. In diesem Jahr 1893 sollte einiges geschehen, was für die weitere Entwicklung bedeutsam war.

Sangesfreude

Das Jahr 1893 war ein Jahr der Wahlen, der Wahlkämpfe und der Not. Anfang des Jah­res kam es zu Streiks im Bergbau, deren ge­ringe Erfolge man auf mangelhafte Organi­sation zurückführte. Viele Arbeiter konnten keine Arbeit finden und ihre Familien nicht ernähren. Die Geschäftsleute in Barop und Hombruch tauschten auf einer Versammlung Listen von Familien aus, die ihre Schulden, „das Angeschriebene“, nicht mehr bezahlen konnten. In diesen Zeiten der Not wollte die Reichsregierung mit erheblichen Kosten das Heer um 80.000 Mann aufstocken. Die Reichstagswahlen im Mai standen ganz im Zeichen der „Militärvorlage“. Die Sozialdemo­kratie wandte sich vehement gegen diesen Ausbau der Militärmacht. Im Süden Dortmunds, das wussten die sozial­demokratischen Führer, konnte man die Wäh­ler motivieren. In Barop fanden gutbesuchte Volksversammlungen statt, auf denen der greise Kandidat Tölcke, der Redakteur Lehmann und mit Max König einer der später füh­renden Dortmunder Sozialdemokraten spra­chen. Und was machte man sonst in Barop? Nun man fand Freude am Gesang. Am 4. März erschien in der Rheinisch-Westfälischen Arbeiterzeitung eine Notiz: „Barop. Auf Anregung mehrerer Kameraden wur­de beschlossen, hier einen Arbeiter-Gesangverein zu gründen. 15 Personen haben sich schon auf ei­ner Liste eingezeichnet. Weitere Anmeldungen werden beim Herrn Wirth Eisenhut am Sonntag Nachmittag von 3 Uhr ab, entgegengenommen. Es ist Pflicht aller Freunde des freien Gesanges, zur Stelle zu sein.“ Die Sangesfreunde standen in einer guten Tradition. Das Chor- und Gesangswesen war in Deutschland weit verbreitet. Die Arbeiter-Gesangvereine wurden aber von den Behör­den misstrauisch beäugt. Mit der Gründung von kulturellen Zirkeln konnte man ja auch die Auflagen des preußischen Vereinsgeset­zes unterlaufen. Gerade Sozialdemokraten zeigten immer dann eine ausgeprägte Bereit­schaft, sich dem Liedgut zu widmen, wenn die Organisation bedroht war. So waren doch schon 1878 im Zuge des Sozialistengeset­zes auch die Dortmunder „Liederfreunde“ verboten worden. Diese plötzliche Sangeslust in Barop musste den Behörden verdächtig vorkommen. Der Aufruf erschien in der sozialdemokratischen Zeitschrift, und just nur eine Woche später sollte in Barop eine große öffentliche Ver­sammlung stattfinden. Auch die Person des Vorsitzenden zeugte nicht gerade von politi­scher Neutralität des Vereins. Karl Stühmeyer war ja als offensichtlicher Anhänger der Sozialdemokratie ortsbekannt und zog gera­de 1893 erstmalig als Vertreter der III. Wahl­klasse in das Gemeindeparlament ein. Bis 1908 sollte er diesen Sitz innehaben, und dort sah man in ihm nicht gerade den Vertreter eines Gesangvereins. Dazu kam, dass die Sänger erhebliche Aktivitäten entwickelten, die aber durchaus nicht dem musikalischen Bereich zuzuordnen waren. Dies gaben sie später auch noch unumwunden zu. Vier Mo­nate nach dem Gründungsaufruf erschien eine weitere Notiz, dass man nun die regel­mäßigen Singestunden wieder aufnehmen wolle, nachdem „die Wahlarbeit nicht mehr die Thätigkeit vieler Mitglieder in Anspruch nimmt“. Die Wahlarbeit zahlte sich aber aus. Mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten und mehr als 60 Prozent der Wähler votierten in Barop für Tölcke. Dabei kamen die Stimmen wohl nicht nur aus dem Bereich der sozialdemo­kratischen Arbeiterschaft. So musste ein Leh­rer und Vorstandsmitglied des evangelischen Arbeitervereins feststellen, dass manche sei­ner Schäfchen doch schon recht rot in der Wolle gefärbt waren. Der Verein führte am 16. April 1893 eine Versammlung in einem Lokal durch, in dem sich kurz nach der Sit­zung Wilhelm Tölcke der Wählerschaft vor­stellte. Und was musste der Herr Lehrer fest­stellen: seine Vereinsmitglieder blieben zu seinem Schrecken nach dem Schluss der Zu­sammenkunft einfach sitzen und hörten sich den Vortrag dieses roten Agitators an. Sei­nen Schluss, dass ein guter Teil später auch noch diesen Umstürzler gewählt habe, bestä­tigte auf der nächsten Sitzung ein Fahrhau­er. Namen wollte dieser aber nicht nennen, hatte er doch Angst, sich für eine entspre­chende Denunziation die schlagfertigen Ar­gumente der Denunzierten einzuhandeln. Nicht alle konnten sich auf eine solche Dis­kretion verlassen. So drückte ein Obersteiger in Renninghausen seinen Bergleuten die Wahlzettel seiner Partei in die Hand und be­gleitete sie bis an die Wahlurne. Einer seiner Untergebenen, der standhaft blieb und für Tölcke stimmte, bekam postwendend die Quittung: Er wurde fristlos entlassen. Ganz andere Sorgen drückten den Baroper Krieger- und Landwehrverein.

Er musste feststel­len, dass die rote Flut auch schon seine fe­sten nationalen Reihen umspülte. Sein Mit­glied Klostermann hatte sich als Sozialdemo­krat entlarvt. Umgehend wandten sich meh­rere Mitglieder an den Vorstand, den Kloster­mann auszuschließen. Dieser brauchte aber nicht mehr tätig zu werden, denn Klostermann schied freiwillig aus. Was blieb ihm auch üb­rig: „Seine Zugehörigkeit zur Sozialdemokra­tie stand außer Zweifel“, betonte selbst der Landrat in seinem Bericht. Trotz aller Repressionen waren die Sozialdemokraten auch bei der folgenden Reichstagswahl 1895 wieder erfolgreich; genau 60 Prozent der Baroper Wähler stimmten für den Kandidaten der Sozialdemokratie.

Neue Wege

Wie die Meldung des königlichen Landrates zeigt, waren die Behörden nicht blind. Die Neigung, Gesangvereine zur Tarnung zu be­nutzen, war wohlbekannt. Sein Bericht gibt auch über den entsprechenden Organisati­onsgrad Auskunft. Immerhin verzeichnet seine Aufstellung sechs „Gesangvereine“ mit 9 bis über 90 Mitgliedern. Die Baroper lagen mit ihren 50 Mitgliedern im Mittelfeld. Nur die Hälfte von ihnen waren gut bei Stimme, der Rest begnügte sich wohl eher mit der Wahl­stimme. So listet der Landrat nämlich je 25 aktive und passive Mitglieder auf. Frauenstim­men waren übrigens nicht gefragt, weder in der Politik noch im Chorgesang: es waren reine „Männer-Gesangvereine“ Sich nur auf eine Tarnorganisation zu stüt­zen, war recht riskant. Dies erkannten auch die führenden Baroper Sozialdemokraten. So begann man 1896, wenn auch noch konspi­rativ, eine eigenständige politische Organisa­tion aufzubauen: einen Ortsverein im Un­tergrund. Schriftlich durfte dies natürlich nicht dokumentiert werden, und so sind nur weni­ge Hinweise durch mündliche Überlieferung auf uns gekommen. Da öffentliche Versamm­lungen nicht möglich waren, tagte man ins­geheim in „Thieheuers Feldscheune“. Auch einige Namen der Beteiligten wurden über­liefert: Altstadt, Bergmann, Bönninghoff, Boll-weg, Burgemeister, Eickhoff, Grote, Hütte­mann, Johannsmann, Niemeier, Pamp, Pohl-mann, Poppensieker und Wiemann sollen den Grundstein für den Ortsverein gelegt haben. Die Mitglieder entrichteten bereits Beiträge an die Organisation. 50 Pfennige musste jeder Genösse zahlen; ein für die da­maligen Einkommen nicht gerade unerhebli­cher Betrag. Auch die Gesamtpartei erhielt ihren Anteil. Durch Boten wurden die Beträ­ge zu Heinrich Hansmann nach Eichlinghofen gebracht, der sie weiterleitete. Daneben fan­den weiterhin Versammlungen des Männer­gesangvereins statt, bei denen nicht nur über Stimmlagen diskutiert wurde.

Kämpfe – Siege – Niederlagen

Die Arbeit der Genossen konzentrierte sich in den Folgejahren auf die Werbung neuer Mitglieder und die Durchführung von Wah­len. Dabei waren die Übergänge zwischen den organisierten Genossen und den San­gesbrüdern fließend. So zogen im Mai 1895 Sozialdemokraten aus Barop und Eichling-hofen gemeinsam auf Agitationstour durch die benachbarten Gemeinden. Es wurden aber nicht nur Parteiprogramme und Flugblät­ter verteilt. Den musikalischen Teil übernahm der Eichlinghofer „Bruderbund“, der in ver­schiedenen Lokalen Freiheitslieder vortrug. Der Männergesangverein Lücklemberg, der auch die Landratsliste zierte, brachte im Ge­genzug den fleißigen Werbern ein Ständ­chen. Natürlich durfte auch der obligate poli­zeiliche Eingriff nicht fehlen. In Wellinghofen beschlagnahmte ein Polizeisergeant Werbe- materialien. Er löste durch seinen Dienstei­ler aber auch Heiterkeit aus, als er das Ein­wickelpapier der Butterbrote kontrollierte. Im gleichen Monat stellte der Dortmunder Reichstagsabgeordnete Möller sein Mandat zur Verfügung. Dies geschah nicht gerade freiwillig, denn er kam damit nur der Aberken­nung zuvor. Der Nationalliberale hatte mas­sive Wahlbeeinflussung betrieben. Eine Nachwahl musste durchgeführt werden. In Barop kam es zu zwei großen Volksversamm­lungen, darunter eine mit dem sozialdemo­kratischen Kandidaten Dr. Lütgenau. Im No­vember setzte sich Lütgenau gegen den er­neut angetretenen Möller in der Stichwahl durch. 385 Baroper votierten für Lütgenau, nur 174 für Möller. Auch in den folgenden Jahren ließen die Anstrengungen nicht nach. Partei, Gesang­verein und Bergarbeiterverband entwickel­ten eine Reihe von Aktivitäten. Die Polizei und Behörden aber auch, indem sie nach Kräf­ten Hindernisse aufbauten. Dem Männer-Gesangverein wurde 1896 die Durchführung seines jährlichen „Liederkränzchens“ verbo­ten. Ein weiteres probates Mittel der Staatsgewalt, das politische Leben zu behindern, war die Schanksperre. Welcher Wirt stellte schon seinen Saal zur Verfügung, wenn man da­durch ins Blickfeld der Polizei geriet und kein Verzehr stattfinden durfte. So konnte der Wirt Brümer die Absage eines Militärkonzerts in seinem „sozialdemokratisch verseuchten“ Saal nur dadurch verhindern, dass er darauf hinwies, dass diese Nutzung sein Vorgänger zu verantworten habe. Auch ein weiterer Wirt ließ durch die Presse verkünden, sein Haus stünde den Sozialdemokraten nicht mehr zur Verfügung. Nicht alle ließen sich einschüchtern. So stell­te der Wirt Binsfeld irn Juni 1897 sein Lokal für eine öffentliche Versammlung bereit. The­ma waren die Verhandlungen über das neue preußische Vereinsgesetz, welches eine weit­gehende Knebelung der politischen Betäti­gung vorsah. Die Anwesenden riefen die Abgeordneten auf, die Vorlage zu verwerfen. Auch das Lokal Eisenhuth wurde wenige Monate später bei einer öffentlichen Ver­sammlung mit einer Schanksperre belegt. Das offizielle Sommerfest des Jahre 1897 des Männer-Gesangvereins erhielt das übliche polizeiliche Verbot. Man traf sich aber zu ei­nem zwanglosen Zusammensein im Garten­lokal des Wirtes Bergmann. Die patrouillie­renden Beamten konnten ihrem Vorgesetz­ten melden, dass sich die halbe „Landrats-Chorliste“ als Gäste ein Stelldichein gab. Und immer wieder Wahl­kämpfe. Im Herbst des Jahres galt es, die Vertreter der III. Klas­se im Gemeinderat zu wählen. Im Folgejahr standen Reichstags­wahlen an. Diesmal unterlag Dr. Lütgenau in der Stichwahl. Daneben versuchten sich auch die „staats­tragenden“ Verbände zu profilieren. Der Krieger- und Landwehrverein bemühte sich, die Mitglieder, die gleichzeitig dem „Verband deutscher Bergleu­te“ angehörten, aus seinen Reihen zu drän­gen. Gewerkschaftliche Tätigkeit war recht gefährlich. So wurde die „Zuchthausvorlage“ eingebracht, die Eingriffe in die Arbeit von Streikbrechern mit Gefängnis bestraft sehen wollte. In Barop wurde natürlich wieder auf einer Volksversammlung der Protest formu­liert. Auch forderte man, das preußische Ver-sammlungs- und Vereinsrecht auf reichsge­setzliche Grundlage zu stellen und damit li­beraler zu gestalten. Ein Wunsch, der zumin­dest teilweise in Erfüllung ging. Langsam aber sicher änderten sich die Zei­ten. Die Behinderungen nahmen ab. Auf die Ankündigung eines Konzerts und Balls des Männer-Gesangvereins erfolgte 1899 erstma­lig kein Bericht über eine Behinderung. Ein Jahr später ereignete sich ebenfalls kein amtlicher Eingriff. Und, kaum glaublich, im Jahre 1901 wurde sogar das Stiftungsfest erlaubt. Einige Kritiker führten das aber dar­auf zurück , dass der Verein seine Mitgliedsli­ste der Polizei bekanntgab. Neue Kräfte bekannten sich nun zur Arbei­terbewegung; der Turnverein „Frohsinn“ Groß-Barop trat zum Arbeiter-Turnerbund über. Nach dem 1. Mai 1900 wußte der Be­richterstatter über ein kaum zu glaubendes Wunder zu berichten: Das Amt Barop hatte für die Maifeiern keine Schanksperre ver­hängt! Die Zeiten änderten sich nicht nur, sie wurden auch schnellebiger. Seit April 1900 konnten die Baroper mit der Straßenbahn nach Eichlinghofen fahren. Schnellebiger be­deutete aber nicht unbedingt wirtschaftlich besser. Die politische Diskussion wurde lange be­herrscht von den Themen „Brodwucher“ und „Getreidezölle“. Der Ausbau der Flotte war der Regierung wichtiger als die preiswerte Ver­sorgung der Bevölkerung.

Neue Strukturen – Der Ortsverein

Obwohl die Wahlergebnisse der Sozialdemo­kratie seit 1890 stetig anstiegen, war man nach den Reichstagswahlen von 1898 im Wahlkreis Dortmund-Horde wenig zufrieden. Man hatte nicht den erhofften Zuwachs er­zielen können. Zwischen den Landgemein­den und der Parteiorganisation in der Stadt Dortmund kam es zu Differenzen. Die Gewin­ne in den Landgemeinden wurden durch Verluste in der Stadt aufgezehrt. In Barop konnte man noch relativ befriedigt sein. Ge­genüber 1895 waren 29 Wähler mehr zur Urne gegangen, und der SPD-Kandidat konn­te genau 29 Stimmen mehr verbuchen. Als ein Jahr später das Verbindungsverbot für politische Vereine aufgehoben wurde, entbrannte auch noch ein Streit über die Or­ganisationsform. Die Landgemeinden wollten das bewährte Vertrauensmännerprinzip bei­behalten. Die Organisation in der strafferen Vereinsform wurde mehr von den übergeord­neten Gremien und den Parteiangestellten des Bezirks favorisiert. Das provisorische Parteistatut von 1900 sah das Vertrauens­männersystem noch immer als Normalfall vor, räumte aber den Parteigenossen bereits die Möglichkeit ein, Vertrauensleute nicht nur in öffentlichen Versammlungen, sondern auch in Vereinen zu wählen. Die Expansion der Partei, der Zustrom neuer Mitglieder, das er­höhte Beitragsaufkommen ließen das System der Vertrauensleute immer mehr als inad­äquat erscheinen. Ein auf dem Provinzpar­teitag 1904 vorgelegter Organisationsentwurf sah die Vereine bereits als Grundlage der Organisation. Als erstrebenswert wurde ein Zentralverein für den ganzen Wahlkreisbe­zirk angesehen. Die Baroper Sozialdemokraten beteiligten sich nicht nur an der Diskussion, sie über­nahmen auch eine Vorreiterrolle. Bereits 1901 gab es Tendenzen, einen Ortsverein zu grün­den. Man nahm davon noch einmal Abstand, da man befürchtete, viele würden aus Furcht vor der Veröffentlichung der Namen nicht beitreten. Als aber bei den Vorbereitungen zu den Reichstagswahlen 1903 sich oftmals bis zu 40 Mitarbeiter und Flugblattverteiler einfanden, die damit offensichtlich bereit wa­ren, ihre Mitgliedschaft zur Sozialdemokratie zu bekunden, glaubte man doch, den Schritt wagen zu können. Am 4. Juni 1903 erfolgte die offizielle Grün­dung des Ortsvereins Barop. Damit vollzogen die Sozialdemokraten Barops als erste im Bezirk den Schritt, einen Ortsverein in einer Landgemeinde zu grün­den. 44 Mitglieder schrieben sich ein, ein pro­visorischer Vorstand konstituierte sich.

Zum ersten Vorstand gehörten: » • Karl Stühmeyer als 1. Vorsitzender • Heinrich Freudewald als 2. Vorsitzender • Friedrich Burgemeister als Kassierer • Heinrich Engelbrecht als 1. Schriftführer • Gustav Pohlmann als 2. Schriftführer und W. Drewermann, G. Hüttemann und F. G rote als Revisoren.

Am folgenden Tag wurde die Polizeibehörde in Barop von der vollzogenen Gründung un­terrichtet. Die Zeit des Versteckens in Thieheuers Feldscheune und hinter dem Noten­blatt war vorüber. Aus dem Gründungsakt sprach aber auch ein gesundes Selbstbewusstsein. Man hatte sich nämlich nicht als Filialverein des Bezirks, son­dern als eigenständigen Ortsverein gegrün­det. Nun ging man daran, die Vereinsarbeit zu organisieren. Ein Protokollbuch wurde ange­schafft und die ersten Eintragungen gemacht. Es sollte alle Fährnisse der Zeit überstehen und befindet sich noch heute im Besitz des Ortsvereins. Als Versammlungsort wurde das Lokal Wagner festgelegt. Sitzungen sollten an jedem 3. Sonntag eines Monats stattfin­den. Nun ging es voran: Bereits auf der ersten or­dentlichen Sitzung konnten fünf weitere Mit­glieder aufgenommen werden. Die Bereit­schaft zur aktiven Mitarbeit war groß, eben­so der Hunger nach politischer Bildung. Schon auf der zweiten Sitzung wurde der Antrag eingebracht, einen Referenten einzu­laden. Nach einem Vierteljahr kam man, wohl wegen der Vielzahl der Anträge, überein, dem Vorstand das Recht zu geben, neue Mitglie­der aufzunehmen, ohne die Versammlung zu befragen. Ihren Niederschlag fand die neue Legalität in der Anschaffung eines Vereins­stempels. In der letzten Sitzung des Jahres wurde erstmalig der Vorstand gewählt. Alle bisherigen Amtsinhaber wurden in ihren Äm­tern bestätigt. Der neue Ortsverein glitt nun in ein ruhiges Fahrwasser. Selbst die allgewaltige Staatsmacht machte sich nicht mehr allzu oft störend bemerkbar. Führende Mitglieder saßen in der Gemeindevertretung, wo man in der dritten Wählerklasse fast konkurrenzlos war. Des­halb beschloß man, die Zeitschrift „Kommu­nale Praxis“ (It. Protokollbuch „Comunale Pracksis“; schon damals war man um die Rechtschreibreform bemüht) zu abonnieren. Man schickte seine Delegierten zu den Kreis­konferenzen und Parteitagen und organisierte vor Ort die klassischen Feiern der Arbeiter­bewegung zum Gedenken an die Märzrevo­lution von 1848 und die Maifeier. Natürlich wurden auch weiterhin die Agitations- und Werbeveranstaltungen durchgeführt. Nun, wo man ordentlich organisiert war, fie­len natürlich auch die schwarzen Schafe auf und gab es interne Streitigkeiten. Als der Theaterverein sich ein Strafmandat einhan­delte, weil Kinder im Saal gewesen waren, wurde ein Vorstandsmitglied der Zusammen­arbeit mit der Polizei beschuldigt. Mitglieder mussten ausgeschlossen werden, weil sie gegen die Statuten verstoßen oder ihre Bei­träge nicht entrichtet hatten. 1905 wurden die Genossen, die die Maifeier versäumt hatten, dazu verdonnert, einen halben Tagesver­dienst an die Partei zu zahlen. Als besonders schädlich sollte es sich erweisen, dass das ehemalige Vorstandsmitglied, der alte Käm­pe Freudewald, zunehmend eigenbrötlerisch wurde und laufend der Parteidisziplin zuwi­derhandelte. Er verstieß gegen den Boykott, den die Partei über eine Kneipe verhängt hatte. Man bemühte sich mächtig, vertagte die Entscheidung, lehnte erst einmal ab, doch endgültig blieb nur noch der AusSchluss. Der Aufforderung, sein Gemeindemandat zur Verfügung zu stellen, kam er nicht nach. Die ganze Affäre sollte noch Folgen haben. Im Juni 1905 kam es zu einem Wechsel in der Führung. Heinrich Burgemeister löste Karl Stühmeier als ersten Vorsitzenden ab. Im Dezember wechselte man das Tagungslokal und begründete damit eine langjährige Tra­dition. Nunmehr tagte man in der Gaststätte des Wirts Wilhelm Bergmann, Baroper Hei­de: dem heutigen Parkhaus Barop. Der Ver­ein hatte sich indessen nicht nur etabliert, sondern auch schon einiges an Material an­gesammelt. Es wurde entschieden, sich zu möblieren. Ein Bücherschrank sollte beschafft werden. Inzwischen war von der Gesamtpartei ein neues Organisationsstatut entwickelt worden. Eine zentrale Organisationsform sollte ge­schaffen werden. Auch in Barop musste man sich damit auseinandersetzen. Die kurze Zeit der relativen Eigenständigkeit ging zu Ende.

Filialverein

Auf einer knappen halben Seite verzeichnet das Protokollbuch die Ergebnisse der Mitglie­derversammlung vom 21. Januar 1906. Kurz und knapp wurde eine gravierende Verände­rung beschlossen. So heißt es: „Punkt I. Auflösung des Sozialdemokratischen Vereins Es wurde beschlossen den Verein aufzulösen und dem sozialdemokratischen Verein Dortmund als Filiale beizutreten; femer wurde beschlossen den frü­heren Vorstand als Filialleiter bestehen zu lassen.“ Ob diese Entscheidung, ein Anhängsel der großen Dortmunder Parteiorganisation zu werden, maßgebend war, kann heute nicht mehr festgestellt werden; auf jeden Fall lie­ßen Interesse und die Beteiligung an der Parteiarbeit gewaltig nach. Erstmalig wurde moniert, dass wenige Genossen anwesend waren. Viele Mitglieder der ländlichen Verei­ne fühlten sich damals durch die Dortmunder Zentrale gegängelt, zumal immer mehr finan­zielle und organisatorische Kompetenz abge­treten werden musste. Auch in Barop schlug sich dies nieder. Als Ende des Jahres der Delegierte für den preußischen Parteitag ge­wählt wurde, erhielt der Kandidat aus dem benachbarten Eichlinghofen Heinrich Hans­mann alle 28 Stimmen, der Kandidat der Dort­munder Parteiorganisation keine. Wo in Barop die Anhänger der Sozialdemo­kratie standen, das war klar. Sie waren in den Reihen derer zu suchen, die über wenige Mittel verfügten, sehr wenige Mittel. Ihr Steu­eraufkommen war entsprechend gering. Als 1906 die Gemeindewahlen zur II. Abteilung anstanden, stellte man wegen des absehba­ren Mißerfolges keine eigenen Kandidaten auf. Sozialdemokraten konnten nur so weni­ge Steuern zahlen, dass sie nur in der IM. Klas­se wahlberechtigt waren. Eines Diskussion beherrschte bald das Jahr. Ein neues Schulgesetz war in der Planung. Insbesondere der starke Einfluß der Kirchen auf die Schulen störte viele sozialdemokra­tische Eltern gewaltig. Auf der turnusmäßi­gen Monatstagung wurde eine Protestver­sammlung gegen das neue Schulgesetz gefordert. Wie wichtig den Genossen dieses Thema war, vermerkt das Protokoll. Erstmalig ver­zeichnet der Schriftführer: „In Punkt Verschie­denes wurde sehr eingehend über Kirche, Religion diskutiert.“ Ein halbes Jahr später wiederholte sich dieser Vorgang, und Anfang des folgenden Jahres findet man sogar ei­nen Antrag auf allgemeinen Kirchenaustritt verzeichnet. Ende des Jahres wurde überraschend der Reichstag aufgelöst. Bei den sogenannten „Hottentottenwahlen“ musste die Sozialdemo­kratie erstmalig einen Rückschlag hinneh­men. Zwar stieg die Zahl ihrer Wählerstim­men weiter, aber prozentual verlor man. Fast die Hälfte der Abgeordnetenmandate ging verloren. An den Baropern lag es nicht. Von den 579 abgegebenen Stimmen in der Haupt­wahl ließen sie nur 220 den anderen Partei­en. 62 Prozent, ein sattes Ergebnis. Die Bar­oper waren während des Wahlkampfes so stark, dass sie noch Agitatoren an schwächere auswärtige Organisationen abtreten konnten. Grenzen fallen Ob die Parteiarbeit bis dahin in Barop eine reine Männerdomäne war, wird aus den Quel­len nicht ersichtlich. Anfangs durften Frauen aus vereinsrechtlichen Gründen nicht in Er­scheinungtreten. Bereits Ende 1906 hatte ein Delegierter von einem Bezirksparteitag die Anregung mitgebracht, Frauenbildungsverei-ne zu gründen. Lange Zeit tat sich aber erst einmal nichts. Die Herren blieben weiterhin unter sich. Im Januar 1908 setzte man end­lich den Punkt „Frauenbewegung“ auf die Tagesordnung. Man entschied sich, die Vor­arbeiten der Filialleitung zu überlassen. Doch erst ging alles weiter seinen üblichen Gang: Märzfeier, Maikommission und neue Vor­standswahlen. Im August erhielt der Ortsverein einen neuen Vorsitzenden: mit Gottlieb Levermann, der bereits seit 1904 dem Vor­stand angehörte, wurde ein Mann 1. Vorsit­zender, der später auch auf die Groß-Dort-munder Sozialdemokratie einen prägenden Einfluß ausüben sollte. Nun ging man das „Frauenproblem“ zügig an. Zur nächsten Sitzung wurde eine weibliche Referentin eingeladen. Frau Lex hatte sich bereits als Vertreterin der Frauenrechte einen Namen gemacht. Ihr Vortrag wurde mit Bei­fall bedacht. Dieser wurde nicht nur von den Männern, sondern auch von den erstmalig erwähnten anwesenden Frauen gespendet. Im Mai war ein Reichsvereinsgesetz erlassen worden, dass nun auch Frauen Teilnahme und den Beitritt zu politischen Vereinigungen er­möglichte. Nach diesem Abend konnte der Filialverein 15 neue Mitglieder verzeichnen: weibliche Mitglieder. Nachdem diese Begrenzung gesprengt war, wollte man gleich noch eine andere Grenze überschreiten. Im sechsköpfigen Gemeinderat liefen vier Mandate aus. Die Sitze für die Repräsentanten der II. und III. Wählerklasse mussten neu besetzt werden. Stühmeier und Freienwald, die von der Sozialdemokrati­schen Wählerschaft in der III. Klasse gewählt worden waren, mussten ausscheiden. In die­ser Situation wagte man ein Experiment. Man stellte erstmalig auch Kandidaten für die II. Wählerklasse auf. Die Wahlberechtigung in den preußischen Gemeinden war an verschiedene Bedingun­gen geknüpft. Wichtigstes Kriterium neben der Ortsansässigkeit war das Steueraufkom­men. Letzeres entschied auch darüber, in welcher Klasse man wählen durfte. Für Barop hieß das damals, dass die jeweils zwei Vertreter für die einzelnen Wahlabtei­lungen sich einer zahlenmäßig recht unter­schiedlichen Wählerschaft stellen mussten. In der 2. Abteilung waren 218, in der 3. Abtei­lung 530 Wähler wahlberechtigt. In der II. Wählerklasse wählten die, die zwischen 78,82 und 230,45 M Steuern entrichtet hatten, wäh­rend die Wähler der III. Klasse eine Steuer­aufkommen von 9 bis 78,66 M aufweisen konnten. Als Kandidaten für die 2. Abteilung schickte man Karl Stühmeyer und Fritz Burgemeister, für die 3. Abteilung Gottlieb Levermann und Friedrich Grote ins Rennen. Der ungeliebte Knappschaftsälteste Freudewald wollte als evangelischer Kandidat seinen Platz wieder einnehmen. Eine sozialdemokratische Zwei­drittelmehrheit im Gemeinderat war nun durchaus möglich. Das wollten die Gegner auf alle Fälle verhindern. Am 23. November 1908 spielten sich in der Wirtschaft Grasekamp, dem Wahllokal, dramatische Szenen ab. An dem Sieg der Sozialdemokraten in der III. Wählerklasse war kaum zu zweifeln, obwohl die beiden christlichen Kirchen zeitweilig ihre offen ausgetragenen Zwistigkeiten zurück­stellten und Kompromißkandidaten aufstell­ten. Heiß umkämpft war aber die 2. Abteilung. Dort führten anfangs die christlichen Kandi­daten. Die Sozialdemokraten bemühten sich um jede einzelne Stimme. So versuchte man noch während des Wahlganges, eine weite­re Wahlvollmacht zu besorgen. Die Beglau­bigung wurde aber auf dem Amt wegen feh­lender Stempelmarken abgelehnt. Trotzdem gingen die Kandidaten im Laufe der natür­lich offenen Wahl offensichtlich in Führung. Da legte in letzter Minute der katholische Kandidat Riepen eine Anzahl Wahlvollmach­ten auf den Tisch und das Geld für die Stem­pelmarken hinzu. Der Amtmann als Wahlvor­steher verweigerte den Sozialdemokraten die Einsicht in die Vollmachten, erkannte diese an und verkündete das Wahlergebnis: Sieg für die christlichen Kandidaten mit 6 Stimmen Vorsprung. Es kam zu einen Tumult und das Wahllokal wurde polizeilich geräumt. Zwar wurde gegen diese Wahl Einspruch er­hoben; doch dieser wurde abgeschmettert. Es sollte aber noch schlimmer kommen. Der gescheiterte Ex-Genosse Freudewald prote­stierte gegen die Wahl in der 3. Abteilung. Nach der Landgemeindeordnung mussten nämlich 2/3 der Gemeindevertreter Besitzer eines Wohnhauses sein. Dies war nicht der Fall. Diesem Protest wurde nur zu gern ent­sprochen. Zu Freudewalds Pech wurden aber keine Nachrücker bestimmt. Die 3. Abteilung wurde erst 1910 ergänzt. Dank dieser Mani­pulationen hatte es die Obrigkeit noch ein­mal geschafft, den Gemeinderat für zwei Jah­re sozialdemokratenfrei zu bekommen. Ein juristisches Nachspiel hatte diese Ge­meindewahl von 1908 noch für den stellver­tretenden Gemeindevorsteher Junge. Er konnte einfach nicht begreifen, wie ein einfa­cher Bürger von einem königlich-preußischen Amtmann Einsicht in Vollmachten verlangen konnte. Seine Wortwahl gegenüber dem Ge­nossen Levermann über diesen Vorfall war nicht die allerfeinste. Für die Beleidigungen musste er 15 M Strafe berappen. Radfahrer gegenüber der Obrigkeit wollten die Genos­sen nicht sein. Ansonsten fuhren sie schon gern schnell mit dem Rad. Inzwischen war vor Ort ein Arbeiter-Radfahrerverein entstanden.

Ein dunkles Loch

Wie sich das Parteileben in der Folgezeit entwickelte, liegt weitgehend im Dunkeln. Das Protokollbuch weist erhebliche Lücken auf. Mitte 1910 fand ein Wechsel an der Spitze des Vereins statt. Wilhelm Lemke wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt. Inzwischen sprachen auch die Frauen ein beachtliches Wort mit. Als Delegierte wurde neben dem Genossen Julius Rost Frau Gießler zur Gene­ralversammlung der Dortmunder Sozialdemokratie entsandt. Im Dortmunder Zentralvorstand waren die Baroper durch Karl Stühmeyer ver­treten. Dieser wandte sich aber immer mehr gewerkschaftlichen Fragen zu und wurde 1911 Angestellter des Bergarbeiterverbandes. Bei den anstehenden Gemeinderatswahlen Ende 1910 griff man zu den Sternen. Nicht nur für die 2., sondern sogar für die 1. Abtei­lung stellte man je einen Kandidaten auf. Doch damit hatte man den „Besserverdienen­den“ vor Ort etwas zuviel zugemutet. Immer­hin beendeten Burgemeister und Pohlmann als Kandidaten der III. Wählerklasse die so­zialdemokratielose Zeit im Gemeinderat. Nachdem man nun schon öfters die Lethar­gie mancher Mitglieder hatte rügen müssen, sah man die Notwendigkeit einer kontinuier­lichen politischen Weiterbildung ein. Im An­Schluss an ein Referat der Genossin L….? aus Dortmund wählte man im Januar 1911 einen fünfköpfigen BildungsAusschuss. Nach diesem Eintrag schweigt das Protokoll­buch für fast acht Jahre. Ganz in einen Dornröschenschlaf versank man aber auch in der Folgezeit nicht. Die Hauptwahl der Reichstagswahlen 1912 rüt­telte nicht an der 60 Prozent Marke der Par­tei in Groß-Barop. Irgendwann in dieser Zeit entstand auch eine Jugendabteilung. Die Anregung, Jugendliche für die Partei zu organsieren, stand schon seit einigen Jahren im Raum, ließ sich aber nur mühsam umsetzen. 1909 gab es in der Dort­munder Parteiorganisation erst drei Jugend­vereine. Immerhin hatten die Baroper die guten Beispiele direkt vor der Haustür. Zwei der drei Vereine waren von den Nachbaror­ganisationen in Hombruch und Eichlinghofen aufgebaut worden. In der gesamten Partei kriselte es bereits lan­ge Zeit. Die Frage, auf welchem Weg die politischen Ziele am besten durchzusetzen waren, wurde lebhaft diskutiert. Die unter­schiedlichen Vorstellungen konnten aber nicht überbrückt werden. Es taten sich Brüche auf. Ein Teil der Mitglieder zog sich aus der akti­ven Arbeit zurück.

Krieg und Folgen

Sommer 1914: der l. Weltkrieg begann. Es wurde vieles versucht, den Frieden zu retten; als stärker aber erwiesen sich die, die diesen Krieg wollten. Die Reichstagsfraktion und der Parteivorstand ließen sich, nachdem die Hee­re erst einmal in Marsch gesetzt worden wa­ren, auf eine Politik des „Burgfriedens“ ein. Die politischen Auseinandersetzungen sollten bis Kriegsende ruhen. Eines der wenigen Lebenszeichen der Partei aus dieser Zeit ist die Offerte der sozialisti­schen Jugend, Pflegerdienste zu leisten. Aber Burgfrieden hin, Burgfrieden her, den Sozis war doch nicht so zu trauen. Das Angebot der Gruppe wurde abgelehnt. Nur Einzelbewer­bungen sollten angenommen werden. Zum Besten der Volksstimmung sollte die Arbeitslosigkeit bekämpft werden. Durch die massenhaften Einberufungen erledigte sich das Problem Arbeitslosigkeit bald von selbst. Es herrschte eine erheblicher Arbeitskräfte­mangel. Gab es zwar nun Arbeit genug, so gab es kaum etwas zu essen. Jahre des Hun­gers, der Kälte und des Sterbens begannen. An der Stellung zum Krieg zerbrach auch die Einheit der deutschen Arbeiterbewegung. Aus den Reihen der Sozialdemokratie lösten sich die Kräfte, die nicht bereit waren, den Krieg und den „Burgfrieden“ zu akzeptieren. Über die Entwicklungen und Auseinanderset­zungen vor Ort wissen wir so gut wie nichts. Das Protokollbuch schweigt, die Parteipres­se schweigt. Es war ja nicht einmal nötig zusammenzu­kommen, um neue Kandidaten für den Ge­meinderat aufzustellen. Die Mandate von Burgemeister und Pohlmann, die eigentlich 1916 ausliefen, wurden im Zeichen des „Burg­friedens“ 1916 und 1917 verlängert. Da man nun auf den guten Willen der Bevölkerung angewiesen war, konnte man auch die Sozi­aldemokraten nicht einfach übergehen. So wurde der Genösse Grote in die Lebensmit­telkommission berufen. Im Spätsommer 1918 war absehbar, dass der Krieg für das Deutsche Reich verloren war. Die verordnete politische Stille begann ab­zubröckeln. Auch in Barop regten sich die Genossen wieder. Für den 15. September 1918 wurde eine Mitgliederversammlung ein­berufen. Erst einmal wurde Bilanz gezogen, eine Bilanz über mehr als zwei Jahre. Es gab 110 männliche und 19 weibliche eingeschrie­bene Mitglieder. Dabei waren die Einberufe­nen mitgerechnet. Georg Giebler, der Leiter des Filialvereins, musste über einen Berichts­zeitraum seit 1916 Rechenschaft geben. Die Parteipresse wurde von immerhin 220 Abon­nenten bezogen. Die Kasse war mit 46,70 M nicht sonderlich gut bestückt. Die anschlie­ßende Aussprache zeigte, was damals be­sonders bedrückte. Es wurde über die Le­bensmittelverteilung heftig diskutiert. Als man sich zwei Monate später wieder traf, befand man sich bereits in einem anderen Staat. Das Kaiserreich war nicht mehr, die Republik war entstanden.

Hier geht es weiter: Weimarer Republik